Gesetze: Art 33 Abs 5 GG, Art 100 Abs 1 GG, Art 125a Abs 1 S 1 GG, § 80 BVerfGG, § 20 Abs 2 S 2 BBesG vom , § 85 BBesG, Anl 4 Nr 1 BBesG vom , Anl 1 BesNG BE vom , Anl 3 BesNG BE vom , Art 1 § 1 Nr 1 Buchst b BesNG BE vom , Art 2 § 2 Abs 1 BesNG BE vom , Art 1 § 2 Abs 1 Nr 1 BesVersAnpÄndG BE 2019/2020 vom , Art 1 § 3 Abs 1 BesVersAnpÄndG BE 2019/2020 vom , Anl 1 Nr 1 BesVersAnpG2016Bek BE vom , Anl 1 Nr 1 BesVersAnpG2017Bek BE vom , Anl 15 Nr 1 BesVersAnpG2017Bek BE vom , Anl 1 Nr 1 BesVersAnpG2019Bek BE vom , Anl 15 Nr 1 BesVersAnpG2019Bek BE vom , § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2010/2011 vom , § 2 Abs 1 S 2 BesVersAnpG BE 2010/2011 vom , § 2 Abs 3 BesVersAnpG BE 2010/2011 vom , Anl 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2010/2011 vom , Anl 15 Nr 1 BesVersAnpG BE 2010/2011 vom , Anl 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2012/2013 vom , Anl 16 Nr 1 BesVersAnpG BE 2012/2013 vom , Art 1 § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2012/2013 vom , Art 1 § 2 Abs 1 S 2 BesVersAnpG BE 2012/2013 vom , Art 1 § 2 Abs 3 BesVersAnpG BE 2012/2013 vom , Anl 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2014/2015 vom , Anl 15 Nr 1 BesVersAnpG BE 2014/2015 vom , Art 1 § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2014/2015 vom , Art 1 § 2 Abs 1 S 2 BesVersAnpG BE 2014/2015 vom , Art 1 § 2 Abs 4 BesVersAnpG BE 2014/2015 vom , Art 1 § 2 Abs 6 BesVersAnpG BE 2014/2015 vom , Art 1 § 2 Abs 1 Nr 1 BesVersAnpG BE 2016 vom , Art 1 § 2 Abs 3 BesVersAnpG BE 2016 vom , Art 1 § 2 Abs 1 Nr 1 BesVersAnpÜblG BE vom , Art 1 § 2 Abs 4 BesVersAnpÜblG BE vom , Art 1 § 2 Abs 7 BesVersAnpÜblG BE vom , Art 11 Abs 1 MRK, Art 11 Abs 2 MRK
Vorschriften über Beamtenbesoldung in Besoldungsordnungen A des Landes Berlin in den Jahren 2008 bis 2020 überwiegend verfassungswidrig - Zur Erweiterung des Prüfungsgegenstandes im Verfahren der konkreten Normenkontrolle insb im Bereich der Beamtenbesoldung (Ls 1) - sowie zum Erfordernis effektiven Rechtsschutzes bzgl hinreichender Alimentierung mit Blick auf Streikverbot für Beamte (Ls 4) - Darlegungslast des Gesetzgebers bzgl Angemessenheit der Besoldung spätestens im Gerichtsverfahren (Ls 6; Fortentwicklung der Rspr) - Prekaritätsschwelle statt Grundsicherungsniveau als Maßstab des Mindestbesoldungsniveaus (Ls 7; Fortentwicklung der Rspr) - Frist zur Neuregelung bis
Leitsatz
1.Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG kann grundsätzlich nur eine Rechtsvorschrift sein, auf die es in dem zugrundeliegenden Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ankommt. Die Befriedungsfunktion der Normenkontrolle erlaubt jedoch die Ausweitung des Prüfungsgegenstandes und des Prüfungszeitraums über den Vorlagegegenstand hinaus, wenn dies zur Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes geboten und zu erwarten ist, dass dem Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf dessen Verwerfungsmonopol künftig weitere vergleichbare Normen in erheblichem Umfang vorgelegt werden müssen.
2. Das Alimentationsprinzip (Art. 33 Abs. 5 GG) verpflichtet den Dienstherrn, Beamten und ihren Familien lebenslang einen amtsangemessenen Unterhalt zu gewähren. Es hat - im Zusammenwirken mit dem Lebenszeitprinzip - vor allem die Funktion, die Unabhängigkeit der Beamtinnen und Beamten im Interesse einer fachlich leistungsfähigen, rechtsstaatlichen und unparteiischen Verwaltung zu gewährleisten. Das Berufsbeamtentum sichert auf diese Weise das Prinzip der freiheitlichen Demokratie gegen Übergriffe zusätzlich ab.
3. Die in Art. 33 Abs. 5 GG enthaltene Garantie eines amtsangemessenen Unterhalts stellt eine den Besoldungsgesetzgeber in die Pflicht nehmende Gestaltungsdirektive dar, bei deren konkreter Umsetzung der Gesetzgeber einen weiten Entscheidungsspielraum besitzt. Er überschreitet die Grenzen dieses Spielraums, wenn die Besoldung im Hinblick auf Zweck und Gehalt des Alimentationsprinzips evident unzureichend ist. Dies unterliegt der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.
4. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Gewähr dafür bieten, dass dem - nicht zum Streik berechtigten - Beamten mit dem gerichtlichen Rechtsschutz ein wirksames Mittel zur Verfügung steht, sein individuelles verfassungsmäßiges Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt gerichtlich durchzusetzen.
5. Die gerichtliche Kontrolle, ob die Besoldung evident unzureichend und Art. 33 Abs. 5 GG deshalb verletzt ist, vollzieht sich in drei Schritten: Erforderlich ist - erstens, sofern Anlass dafür besteht - eine Prüfung des Gebots der Mindestbesoldung (Vorabprüfung). Es bedarf - zweitens - einer zweistufigen Prüfung des Gebots, die Besoldung der Beamten fortlaufend an die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards anzupassen (Fortschreibungsprüfung). Schließlich - drittens - ist, sofern die Vorabprüfung oder die Fortschreibungsprüfung einen Verstoß gegen das Alimentationsprinzip ergibt, zu prüfen, ob dieser Verstoß ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
6. Soweit sich dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Bestimmung, Bewertung und wechselseitige Zuordnung der jeweils in Betracht zu ziehenden alimentationsrelevanten Aspekte Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume eröffnen, entspricht dem eine eingeschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle, die sich auf eine Prüfung der Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit der Einschätzungen und Beurteilungen des Gesetzgebers beschränkt. Mit gesetzgeberischen Einschätzungs- und Beurteilungsspielräumen korrespondiert eine materielle Darlegungslast, der - sofern sie nicht bereits im Gesetzgebungsverfahren erfüllt worden ist - nachträglich im Gerichtsverfahren durch den über die maßgeblichen Erwägungen unterrichteten Dienstherrn genügt werden kann. Sie tritt an die Stelle der in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geforderten Einhaltung prozeduraler Anforderungen.
7. Eine die Unabhängigkeit des Beamten sichernde Freiheit von existenziellen finanziellen Sorgen setzt voraus, dass seine Besoldung mindestens so bemessen ist, dass sie einen hinreichenden Abstand zu einem ihn und seine Familie treffenden realen Armutsrisiko sicherstellt. Dies ist nur der Fall, wenn das Einkommen die Prekaritätsschwelle von 80 % des Median-Äquivalenzeinkommens erreicht (Gebot der Mindestbesoldung). Die in der Senatsrechtsprechung bisher vorgenommene Prüfung am Maßstab des Grundsicherungsniveaus wird insoweit fortentwickelt. Wird die Mindestbesoldung unterschritten, liegt allein hierin ein Verstoß gegen das Alimentationsprinzip; einer Fortschreibungsprüfung bedarf es in diesem Fall nicht.
8. Ob der Gesetzgeber bei der kontinuierlichen Fortschreibung der Besoldung über die Jahre hinweg der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards hinreichend Rechnung getragen hat, muss im Rahmen einer zweistufigen Prüfung anhand verschiedener, aus dem Alimentationsprinzip ableitbarer Kriterien beurteilt werden (Fortschreibungsprüfung).
a) Auf der ersten Prüfungsstufe sind ein Vergleich der Besoldungsentwicklung mit der Entwicklung von drei volkswirtschaftlichen Vergleichsgrößen (Tariflohnindex, Nominallohnindex, Verbraucherpreisindex) sowie ein systeminterner Besoldungsvergleich, dem das Abstandsgebot zugrundeliegt, vorzunehmen. Die Besoldungsentwicklung wird ebenso wie die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Vergleichsgrößen methodisch jeweils mit Hilfe eines auf das feste Basisjahr 1996 zurückgehenden Index erfasst. Eine deutliche Abweichung der Besoldungsentwicklung von der Entwicklung einer der drei Vergleichsgrößen von mindestens 5 % ist jeweils ein Indiz für eine evidente Missachtung des Alimentationsprinzips (erster, zweiter und dritter Parameter). Eine Verletzung des Abstandsgebots kann entweder in der deutlichen Verringerung der Abstände zwischen Besoldungsgruppen (unmittelbarer Verstoß) oder in der Unterschreitung der gebotenen Mindestbesoldung in einer niedrigeren Besoldungsgruppe (mittelbarer Verstoß) bestehen (vierter Parameter).
b) Auf der zweiten Prüfungsstufe sind die Ergebnisse der ersten Prüfungsstufe mit weiteren alimentationsrelevanten Kriterien im Rahmen einer wertenden Betrachtung zusammenzuführen. Sind mindestens zwei Parameter erfüllt, besteht eine Vermutung für eine verfassungswidrige Unterbesoldung. Wird kein Parameter erfüllt, wird eine amtsangemessene Besoldung vermutet. Ist ein Parameter erfüllt, müssen die Ergebnisse der ersten Stufe auf der zweiten Stufe besonders eingehend gewürdigt werden. Auf der ersten Prüfungsstufe festgestellte Vermutungen können sowohl erhärtet als auch widerlegt werden.