Umfang und Grenzen einer Ultra-vires-Kontrolle des Handelns von Organen der Europäischen Union durch das BVerfG (hier: Mangold-Entscheidung des EuGH <C-144/04, > nicht ultra vires) - Zur Möglichkeit sekundären Vertrauensschutzes durch Gewährung von Schadensersatz bei rückwirkender Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes aufgrund einer Entscheidung des EuGH - Anwendung des Willkürmaßstabes aus BVerfGE 82, 159 <194> auch hinsichtlich einer Verletzung von Art 267 Abs 3 AEUV - abweichende Meinung: Kompetenzüberschreitung des EuGH in Mangold-Entscheidung jedenfalls mit Annahme einer Vorwirkung der EGRL 78/2000, Mehrheitsansicht weicht von Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267 <353 ff>) ab
Leitsatz
1. a) Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen
Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist
und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.
b) Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts ist dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens
nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der
fraglichen Handlungen zu geben, soweit er die aufgeworfenen Fragen noch nicht geklärt hat.
2. Zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes ist zu erwägen, in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit
eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union innerstaatlich eine Entschädigung dafür
zu gewähren, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat.
3. Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das
Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung
der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Dieser Willkürmaßstab
wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht (Bestätigung von BVerfGE 82, 159 <194>).