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BFH Beschluss v. - VII B 99/13

Gesetze: FGO § 69 Abs. 2, FGO § 69 Abs. 3, FGO § 108, FGO § 128 Abs. 3, AO § 71, AO § 125 Abs. 2 Nr. 1, AO § 131, AO § 202, AO § 219, AO § 370 Abs. 1, UStG § 25d, UStG § 6a, UStG § 14c

Voraussetzungen einer Haftung nach § 71 AO; Inanspruchnahme weiterer Haftungsschuldner nach § 25d UStG; Einschränkung des Subsidiaritätsgrundsatzes in Fällen der Steuerhinterziehung; Ermittlungsbericht der Steuerfahndung kein Prüfungsbericht i.S. des § 202 Abs. 1 AO

Leitsatz

1. Eine haftungsrechtliche Inanspruchnahme nach § 71 AO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil zugleich eine Inanspruchnahme eines ebenfalls in den Umsatzsteuerbetrug eingebundenen Unternehmens nach § 25d UStG in Betracht käme.
2. § 71 AO ist keine Sanktions-, sondern eine Haftungsnorm, mit der ein schadenersatzähnlicher Ausgleich herbeigeführt werden soll. Dabei bemisst sich der für die Haftung maßgebliche Schaden allein nach dem Umfang der tatsächlichen Erfüllung der Steuerschuld, zu deren rechtzeitiger Begleichung der in Anspruch genommene Haftungsschuldner verpflichtet war. Im Fall eines unberechtigten Vorsteuerabzugs besteht der Schaden in der Begründung eines Umsatzsteuervergütungsanspruchs, der im Ergebnis zu einer entsprechenden Minderung der Steuerschuld und zu einem nicht angemeldeten nominalen Steuerbetrag führt.
3. Da die bei der Finanzbehörde eingereichten Voranmeldungen nach § 168 i.V.m. § 164 AO zu Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung führen, ist mit der Abgabe der unrichtigen Steuererklärungen die begangene Steuerhinterziehung vollendet. Nicht angemeldete nominale Steuerbeträge sind auf Dauer verkürzt.
4. Nicht nur bei Scheingeschäften, sondern auch bei Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit ist der Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder wissen konnte bzw. hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war. Dabei handelt es sich um einen von der Rechtsprechung des EuGH eigenständig entwickelten Versagungsgrund, der keiner ausdrücklichen Nominierung im nationalen Umsatzsteuerrecht bedarf.
5. In Fällen der betrügerischen Einbindung in Umsatzsteuerkarusselle kommt beim Vorliegen von Scheingeschäften, denen keine umsatzsteuerbaren Leistungen zugrunde liegen, eine Berichtigung der geschuldeten Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 2 UStG in Betracht. Liegt indes eine wirtschaftliche Tätigkeit vor, so dass von einer Unternehmereigenschaft des Betroffenen auszugehen ist, kommt eine Anwendung des § 14c Abs. 2 UStG nicht in Betracht.
6. In den Fällen von Steuerhinterziehung wird der im steuerlichen Haftungsrecht zu beachtende Subsidiaritätsgrundsatz durch § 191 Abs. 5 Satz 2 AO und § 219 Satz 2 AO eingeschränkt. Das Finanzamt braucht in Bezug auf die Primärschuld den Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht zu beachten und mit dem Erlass eines Haftungsbescheids auch nicht abzuwarten, bis Vollstreckungsmöglichkeiten gegen den Erstschuldner ausgeschöpft sind.
7. Da bei außergewöhnlichen Umständen, bei denen feststeht, dass die Steuerschuld und damit die Primärschuld nicht besteht bzw. zu erlassen wäre, der Erlass eines Haftungsbescheids ermessensfehlerhaft sein kann, ist im Rahmen der Ausübung des Entschließungsermessens eine beim Steuerschuldner vorhandene Erlasssituation zu berücksichtigen.
8. Die Finanzbehörde kann beim Erlass eines Haftungsbescheids im Rahmen der Ausübung des ihr zustehenden Entschließungs- und Auswahlermessens sämtliche zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen (hier: vorläufiger Ermittlungsbericht der Steuerfahndung) nutzbar machen, wobei sie den Ausgang eines anhängigen Strafverfahrens nicht abzuwarten braucht.
9. Ermittlungsberichte der Steuerfahndung sind keine Prüfungsberichte i.S. des § 202 Abs. 1 AO.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2015 S. 161 Nr. 2
PStR 2015 S. 30 Nr. 2
VAAAE-80506

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