Tarifkundenvertrag zur Gasversorgung: Unvereinbarkeit des gesetzlichen Preisänderungsrechts des Anbieters mit Gemeinschaftsrecht; Regelungslücke und Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung durch die erkennenden Gerichte
Leitsatz
1. § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV ist mit den Transparenzanforderungen der Gas-Richtlinie 2003/55/EG nicht vereinbar (Anschluss an und C-400/11, NJW 2015, 849 - Schulz und Egbringhoff).
2. § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV kann daher ein gesetzliches Recht des Gasversorgungsunternehmens, gegenüber Tarifkunden die Preise einseitig nach billigem Ermessen zu ändern, nicht (mehr) entnommen werden (insoweit Aufgabe der st. Rspr.; siehe nur , BGHZ 172, 315 Rn. 14 ff.; vom , VIII ZR 138/07, BGHZ 178, 362 Rn. 26; vom , VIII ZR 56/08, BGHZ 182, 41 Rn. 18 ff.).
3. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts findet dort seine Grenze, wo die nationale Vorschrift nicht richtlinienkonform ausgelegt werden könnte, ohne dabei die Grenzen der verfassungsrechtlichen Bindung des Richters an das Gesetz zu sprengen. Eine richtlinienkonforme Auslegung setzt daher voraus, dass durch eine solche Auslegung der erkennbare Wille des Gesetz- oder Verordnungsgebers nicht verändert wird, sondern die Auslegung seinem Willen (noch) entspricht (Bestätigung von , BGHZ 179, 27 Rn. 28; vom , VIII ZR 226/11, BGHZ 195, 135 Rn. 22 und Beschluss vom , II ZB 7/11, NJW 2013, 2674 Rn. 42; Anschluss an BVerfG, , 1 BvR 121/11, GmbHR 2013, 598, 601 und BVerfG, , 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669, 670 f.; BAG, , 1 AZR 590/02 (A), BAGE 82, 211, 225 f. und BAG, , 6 AZR 114/02, BAGE 106, 252, 261; vergleiche auch EuGH, , C-351/12, GRUR 2014, 473 Rn. 45 - OSA; EuGH, , C-176/12, BB 2014, 2493 Rn. 39 mwN - Association de médiation sociale und EuGH, , C-12/08, Slg. 2009, I-6653 Rn. 61 - Mono Car Styling).
4. Ein den Transparenzanforderungen der Gas-Richtlinie 2003/55/EG entsprechendes Preisänderungsrecht kann nicht aus einer richtlinienkonformen Auslegung des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV oder der die Grundversorgung betreffenden Vorschriften des Energiewirtschaftsgesetzes hergeleitet werden, da eine solche Auslegung über den erkennbaren Willen des nationalen Gesetz- und Verordnungsgebers hinausginge.
5. Die hierdurch im Tarifkundenvertrag eingetretene Regelungslücke ist im Wege einer gebotenen ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) dahingehend zu schließen, dass das Gasversorgungsunternehmen berechtigt ist, Kostensteigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben, und das Gasversorgungsunternehmen verpflichtet ist, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen. Der nach dieser Maßgabe berechtigterweise erhöhte Preis wird zum vereinbarten Preis. Für eine zusätzliche Billigkeitskontrolle gemäß § 315 BGB ist deshalb kein Raum.
6. Die Beurteilung, ob die Preiserhöhungen des Energieversorgungsunternehmens - wie im Rahmen des vorgenannten Preisänderungsrechts erforderlich - dessen (Bezugs-)Kostensteigerungen (hinreichend) abbilden, hat der Tatrichter auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schätzungsmöglichkeit nach § 287 Abs. 2 in Verbindung mit § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorzunehmen.
7. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Weitergabe der Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht tagesgenau erfolgen muss, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen ist. Die Bemessung dieses Zeitraums obliegt der Beurteilung des Tatrichters nach den Umständen des Einzelfalls. In den meisten Fällen wird das Gaswirtschaftsjahr ein geeigneter Prüfungsmaßstab sein (Fortführung der , aaO Rn. 25, und vom , VIII ZR 138/07, aaO Rn. 34 f.).
8. Von dem aus der ergänzenden Vertragsauslegung folgenden Preisänderungsrecht des Energieversorgungsunternehmens nicht umfasst sind Preiserhöhungen, die über die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen hinausgehen und der Erzielung eines (zusätzlichen) Gewinns dienen. Etwas anderes gilt - sowohl im Falle der Rückforderung als auch im Falle der Restforderung von Entgelt für Energielieferungen - allerdings unter bestimmten Voraussetzungen dann, wenn bei einem langjährigen Energielieferungsverhältnis der Kunde die Preiserhöhung nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat (Bestätigung und Fortführung der , BGHZ 192, 372 Rn. 21, 25, und , VIII ZR 93/11, ZNER 2012, 265 Rn. 29 f.; vom , VIII ZR 360/13, juris Rn. 33 und , VIII ZR 109/14, juris Rn. 34 und vom , VIII ZR 59/14, BB 2015, 1548 Rn. 37 mwN). Der danach maßgebliche Preis tritt an die Stelle des Anfangspreises (Bestätigung des Senatsurteils vom , VIII ZR 59/14, aaO).
Tatbestand
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n): BB 2015 S. 2690 Nr. 45 BB 2015 S. 2753 Nr. 46 NJW 2016 S. 1718 Nr. 24 RIW 2016 S. 305 Nr. 5 WM 2016 S. 989 Nr. 21 ZIP 2015 S. 2226 Nr. 46 ZIP 2015 S. 87 Nr. 45 GAAAF-07488