Grenzen der Pflicht zur Vorlage von Rechtsfragen an den Europäischen Gerichtshof
Leitsatz
1. Ein Senat des BFH kann ungeachtet früherer abweichender Entscheidung eines anderen Senats zu einer bestimmten Rechtsfrage ohne Anfrage bei diesem Senat oder Anrufung des Großen Senats des BFH nach § 11 Abs. 2 und 3 FGO und damit ohne Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters in der Sache abweichend entscheiden, wenn dieselbe Rechtsfrage zwischenzeitlich durch den EuGH entschieden worden ist und sich der später erkennende Senat dieser Rechtsansicht anschließt.
2. Eine Gerichtsentscheidung, in der eine mögliche Vorlage an den EuGH abgelehnt wird, verstößt nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn das Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Anschluss an , BVerfGK 17, 108; , BVerfGK 19, 265; , BFH/NV 2010, 218; , BFH/NV 2014, 521).
3. Eine solche Verletzung des Gebots des gesetzlichen Richters kann mit der Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO i.V.m. § 134 FGO gegen ein Urteil des BFH nicht geltend gemacht werden, das sich ausdrücklich einer Entscheidung des EuGH zu einer in einem anderen Verfahren vorgelegten Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV angeschlossen hat und auf der vertretbaren Überzeugung beruht, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair”) oder durch die Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt („acte éclairé”).
4. Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 AEUV in diesen Fällen nur dann, wenn das Fachgericht ohne sachlich einleuchtende Begründung eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage bejaht (Anschluss an , juris; , NVwZ 2016, 56; , BFHE 217, 230, BStBl II 2007, 653, und , ZSteu 2008, R 747; , BFH/NV 2009, 211). Daran fehlt es schon dann, wenn sich das Urteil mit der Judikatur des EuGH und den einschlägigen unionsrechtlichen Fragen, soweit der Senat sie für entscheidungserheblich gehalten hat, auseinandersetzt und der Rechtsprechung des EuGH auch unter Berücksichtigung des Umstands folgt, dass die der EuGH-Rechtsprechung vorangegangenen Vorlagebeschlüsse rechtliche Ausführungen enthalten, zu denen der EuGH nicht ausdrücklich Stellung genommen hat.
Fundstelle(n): BStBl 2017 II Seite 198 AO-StB 2017 S. 3 Nr. 1 BB 2016 S. 2773 Nr. 46 BB 2016 S. 2853 Nr. 47 BFH/NV 2017 S. 126 Nr. 1 BFH/PR 2017 S. 63 Nr. 2 BStBl II 2017 S. 198 Nr. 4 DStR 2016 S. 10 Nr. 45 DStRE 2017 S. 106 Nr. 2 DStZ 2016 S. 953 Nr. 24 GStB 2017 S. 14 Nr. 4 HFR 2017 S. 147 Nr. 2 IStR 2017 S. 152 Nr. 4 KÖSDI 2016 S. 20071 Nr. 12 NJW 2017 S. 189 Nr. 3 NWB-Eilnachricht Nr. 47/2016 S. 3510 RIW 2017 S. 545 Nr. 8 StB 2016 S. 324 Nr. 11 StuB-Bilanzreport Nr. 10/2017 S. 406 Ubg 2017 S. 120 Nr. 2 PAAAF-85894