Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435/EWG – Befreiung der von Gesellschaften eines Mitgliedstaats an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten ausgeschütteten Gewinne von der Steuer – Nutzungsberechtigter der ausgeschütteten Gewinne – Rechtsmissbrauch – In einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die an ein verbundenes Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, Dividenden zahlt, die dann in vollem oder nahezu vollem Umfang in ein Gebiet außerhalb der Europäischen Union fließen – Zum Quellensteuerabzug verpflichtete Tochtergesellschaft
Leitsatz
1. Die Rechtssachen C-116/16 und C-117/16 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Der allgemeine Grundsatz des Unionsrechts, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf die Vorschriften des Unionsrechts berufen kann, ist dahin auszulegen, dass die nationalen Behörden und Gerichte einem Steuerpflichtigen die Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom geänderten Fassung bei Betrug oder Missbrauch auch dann zu verwehren haben, wenn dies nicht in einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen vorgesehen ist.
3. Der Nachweis eines Rechtsmissbrauchs setzt zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraus, aus denen sich ergibt, dass das Ziel der Unionsregelung, obwohl deren Voraussetzungen formal erfüllt sind, nicht erreicht worden ist, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, aus der Unionsregelung, indem künstlich die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen werden, einen Vorteil zu erlangen. Aus dem Zusammentreffen einer Reihe von Indizien kann, sofern diese objektiv und übereinstimmend sind, geschlossen werden, dass ein Missbrauch vorliegt. Als solche Indizien kommen insbesondere die Existenz von Durchleitungsgesellschaften, für die es keine wirtschaftliche Rechtfertigung gibt, und der Pro-forma-Charakter der Konzernstruktur, der Steuergestaltung und der Darlehen in Betracht.
4. Eine nationale Behörde muss, wenn sie eine Gesellschaft nicht als Nutzungsberechtigte von Dividenden anerkennen oder einen Rechtsmissbrauch nachweisen will, nicht bestimmen, wer ihrer Auffassung nach Nutzungsberechtigter der Dividenden ist.
5. In einem Fall, in dem die Regelung der Quellensteuerbefreiung der Richtlinie 90/435 in der durch die Richtlinie 2003/123 geänderten Fassung bei Dividenden, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft zahlt, wegen der Feststellung eines Betrugs oder Missbrauchs im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie nicht anwendbar ist, kann sich die betreffende Gesellschaft nicht auf die vom AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten berufen, um die im Quellenmitgliedstaat geltende Regelung über die Besteuerung der Dividenden anzugreifen.