Leitsatz
1. Stellt sich bei einer Ultra-vires- oder Identitätskontrolle die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer
Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, so legt das
Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung grundsätzlich den Inhalt und die Beurteilung zugrunde, die die Maßnahme
durch den Gerichtshof der Europäischen Union erhalten hat.
2. Der mit der Funktionszuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV verbundene Rechtsprechungsauftrag des Gerichtshofs
der Europäischen Union endet dort, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv
willkürlich ist. Überschreitet der Gerichtshof diese Grenze, ist sein Handeln vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2
EUV in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt, so dass seiner Entscheidung jedenfalls für
Deutschland das gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG
erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlt.
3. Bei der Berührung fundamentaler Belange der Mitgliedstaaten, wie dies bei der Auslegung der Verbandskompetenz der
Europäischen Union und ihres demokratisch legitimierten Integrationsprogramms in der Regel der Fall ist, darf die
gerichtliche Kontrolle die behaupteten Absichten der Europäischen Zentralbank nicht unbesehen übernehmen.
4. Die Kombination eines weiten Ermessens des handelnden Organs und einer Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte
durch den Gerichtshof der Europäischen Union trägt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung offensichtlich
nicht hinreichend Rechnung und eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher
Zuständigkeiten.
5. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat entscheidende Bedeutung für die
Gewährleistung des demokratischen Prinzips. Die Finalität des Integrationsprogramms darf nicht dazu führen, dass das
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als eines der Fundamentalprinzipien der Europäischen Union faktisch außer
Kraft gesetzt wird.
6. a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den
Mitgliedstaaten und die damit verbundene wertende Gesamtbetrachtung besitzen ein für das Demokratieprinzip und den
Grundsatz der Volkssouveränität erhebliches Gewicht. Ihre Missachtung ist geeignet, die kompetenziellen Grundlagen
der Europäischen Union zu verschieben und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen.
b) Die Verhältnismäßigkeit eines Programms zum Ankauf von Staatsanleihen setzt neben seiner Eignung zur Erreichung
des angestrebten Ziels und seiner Erforderlichkeit voraus, dass das währungspolitische Ziel und die
wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung
des währungspolitischen Ziels unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen
missachtet offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV.
c) Dass das Europäische System der Zentralbanken keine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben darf, schließt es
nicht aus, unter dem Gesichtspunkt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV die Auswirkungen zu erfassen, die ein
Ankaufprogramm für Staatsanleihen etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise,
das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat, und sie - im Rahmen einer wertenden
Gesamtbetrachtung - zu dem angestrebten und erreichbaren währungspolitischen Ziel in Beziehung zu setzen.
7. Ob ein Programm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt, entscheidet sich
jedoch nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern nur auf der Grundlage einer wertenden
Gesamtbetrachtung. Vor allem die Ankaufobergrenze von 33 % und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel
der Europäischen Zentralbank verhindern, dass unter dem PSPP selektive Maßnahmen zugunsten einzelner Mitgliedstaaten
getroffen werden und dass das Eurosystem zum Mehrheitsgläubiger eines Mitgliedstaats wird.
8. Eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung für die unter dem PSPP erworbenen Staatsanleihen würde die
Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3
GG unvereinbar. Sie stellte in der Sache eine vom Grundgesetz verbotene Haftungsübernahme für Willensentscheidungen
Dritter mit schwer kalkulierbaren Folgen dar.
9. Bundesregierung und Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken. Sie müssen ihre Rechtsauffassung
gegenüber der Europäischen Zentralbank deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung
vertragskonformer Zustände sorgen.
10. Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder
Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Das gilt grundsätzlich auch für die Bundesbank.