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BVerfG Beschluss v. - 1 BvL 3/18, 1 BvR 717/16, 1 BvR 2257/16, 1 BvR 2824/17

Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 GG, Art 80 Abs 2 S 1 GG, Art 100 Abs 1 S 1 Alt 2 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 93 Abs 1 S 1 BVerfGG, § 55 Abs 1 S 1 SGB 11, § 55 Abs 3 S 1 SGB 11, § 55 Abs 3 S 2 SGB 11, § 57 Abs 1 S 1 SGB 11, § 10 Abs 1 SGB 5, § 10 Abs 2 SGB 5, § 10 Abs 4 SGB 5, § 56 Abs 1 S 1 SGB 6, § 70 Abs 2 SGB 6, § 70 Abs 3a SGB 6

Von der Kinderzahl unabhängige Beitragsbelastung von Eltern in der sozialen Pflegeversicherung verstößt gg Art 3 Abs 1 GG - hingegen kein Verstoß gg den Gleichheitssatz durch gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder in ges Renten- u Krankenversicherung

Leitsatz

1. Bei der Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen erfordert Art. 3 Abs. 1 GG die Beachtung des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleiteten Gebots der Belastungsgleichheit, das sich auf alle staatlich geforderten Abgaben erstreckt. Wirken sich Beitragsregelungen innerhalb der Gruppe der Familien zu Lasten bestimmter Familienkonstellationen nachteilig aus, so muss der Staat den besonderen Schutz beachten, den er der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schuldet.

2. Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich (Differenzierungsverbot) und wesentlich Ungleiches ungleich (Differenzierungsgebot) zu behandeln.

a) Bei formal gleichbehandelnden Vorschriften ist der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Differenzierungsverbot einschlägig, wenn durch sie eine Belastungsungleichheit normativ veranlasst wird; demgegenüber ist Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Differenzierungsgebot in Ansatz zu bringen, wenn die Belastungsungleichheit auf tatsächlichen Ungleichheiten des zu ordnenden Lebenssachverhalts beruht.

b) Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem sind im Ausgangspunkt die für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen geltenden Maßstäbe in Ansatz zu bringen.

c) Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist darauf zu beziehen, ob gerade die nicht differenzierende Regelung einem legitimen Zweck dient und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

d) Eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem ist dann nicht erforderlich, wenn der Gesetzgeber durch eine stärker zugunsten der hierdurch Benachteiligten differenzierende Regelung das angestrebte Regelungsziel ohne Belastung Dritter oder der Allgemeinheit gleich wirksam erreichen oder fördern kann.

Im Sozialversicherungsrecht ist der Gesetzgeber aber nicht gehalten, eine eventuell gebotene Besserstellung einzelner Versicherter durch einen Steuerzuschuss zu finanzieren. Mildere Mittel sind nicht solche, die eine Kostenlast lediglich verschieben.

e) Eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem ist nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn die Bedeutung der mit der gleichen Behandlung verfolgten Ziele in einem angemessenen Verhältnis zur tatsächlichen Ungleichheit des zu ordnenden Lebenssachverhalts und zum Ausmaß der sich hieraus bei gleicher Behandlung ergebenden Benachteiligung stehen.

3. In der sozialen Pflegeversicherung führt die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Beitragsbelastung von Eltern zu einer verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.

In der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung begründet die gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder dagegen keine Benachteiligung der Eltern, weil durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten und die beitragsfreie Familienversicherung im Krankenversicherungsrecht ein hinreichender Nachteilsausgleich erfolgt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2022:ls20220407.1bvl000318

Fundstelle(n):
KAAAI-62413

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