Strafbarkeit der "groben Störung" einer Versammlung im Rahmen einer Gegendemonstration (§ 21 Alt 3 VersG <RIS: VersammlG>) verfassungsgemäß - Beschränkung des Zitiergebots des Art 19 Abs 1 S 2 GG auf vorhersehbare Grundrechtseinschränkungen - Versammlungsfreiheit schützt grds auch "störende" Gegendemonstrationen - Sprungrevision steht Rechtswegerschöpfung gem § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG nicht grds entgegen
Leitsatz
1. Die Erfordernisse der Erschöpfung des Rechtswegs und der Subsidiarität können auch bei Einlegung einer Sprungrevision anstelle einer Berufung gewahrt sein. Die Verfassungsbeschwerde kann in diesem Fall allerdings nicht auf solche Einwände gestützt werden, die fachrechtlich nur vor der übersprungenen Instanz hätten geltend gemacht werden können.
2. Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG findet jedenfalls nur auf solche Grundrechtseinschränkungen Anwendung, die der Gesetzgeber vorhergesehen hat oder die für ihn hinreichend vorhersehbar waren. Zur Beurteilung der hinreichenden Vorhersehbarkeit ist maßgeblich darauf abzustellen, was von einem sorgfältig handelnden Gesetzgeber ausgehend von einer strikten ex-ante-Perspektive realistischerweise erwartet werden kann.
3. Die Versammlungsfreiheit zählt zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens und ist für die freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend. Der einer Demokratie immanente kontinuierliche Meinungskampf mit seinen wiederkehrenden, auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips zu treffenden Entscheidungen erfordert fortwährend einen freien, offenen und pluralistischen Diskurs, in dem auch andersdenkende Minderheiten zu Wort kommen und Gehör finden.
4. Eine Versammlung in physischer Präsenz im öffentlichen Raum stellt auch in einer zunehmend digitalisierten Welt ein unverzichtbares Instrument der kollektiven Meinungskundgabe dar, durch das ein gemeinsames kommunikatives Anliegen unmittelbar erlebbar wird und unabhängig von selektierenden Mechanismen direkt an einen konkreten Adressatenkreis oder allgemein an die Öffentlichkeit gerichtet werden kann.
5. a) Bei einer Zusammenkunft ist der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls dann eröffnet, wenn sie – über die bloße Negation der gestörten Meinungskundgabe hinaus – ein eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist, ohne dass es auf dessen Gewichtung gegenüber einem Störungselement ankäme. Sofern eine Zusammenkunft hingegen ausschließlich auf die Störung einer anderen Versammlung gerichtet ist und sie nicht zugleich auf einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung abzielt, fällt sie mangels Versammlungseigenschaft nicht in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG.
b) Es ist für ein demokratisches Gemeinwesen von zentraler Bedeutung, dass das Recht, seine Meinung gemeinschaftlich mit anderen öffentlich kundzutun, nicht zum Mittel wird, um Menschen mit anderen Überzeugungen an der Wahrnehmung desselben Rechts zu hindern.